Für die Opfer der "Euthanasie"-Verbrechen im Nationalsozialismus Baden-Württemberg

In Grafeneck begann im Jahr 1940 die sogenannte Aktion "T4". In einem Jahr wurden hier unter nationalsozialistischer Herrschaft 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet. Heute existiert in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Opfer und gegen das Vergessen in den Diskussionen der Gegenwart.

Panoramabild des Schlosses Grafeneck im Jahr 1930. Zu sehen ist das drei-flügelige Schloss auf einer Anhöhe, umgeben von Wald.
Das Foto zeigt einen von der Reichspost der T4-Organisation überlassenen roten Bus. Die Aufnahme entstand bei einer der Deportationen von Heimbewohnern aus der Stiftung Liebenau nach Grafeneck im Herbst 1940. Im Vordergrund zu sehen sind mehrere Personen, darunter zwei Männer in weißen Mänteln, die Formulare auszufüllen scheinen. Am rechten Bildrand steht ein Mann mit einer weißen Schürze. Im Hintergrund steht ein roter Bus.
Zur Landwirtschaft gehörendes Gebäude ("Remise"), in das zur Jahreswende 1939/40 eine Gaskammer eingebaut wurde. Das Bild zeigt ein längliches, weißes Gebäude. Links am Gebäude befindet sich eine Tür, rechts daneben drei Tore aus Holz. Die beiden mittleren Tore sind geöffnet.

Mathäus Lorenz Seitz

1877 Öschelbronn (bei Pforzheim) – Grafeneck 1940

Selbstgemaltes Porträt von Mathäus Lorenz Seitz 1921. Das Bild zeigt einen Mann mit Brille, hellem Haar, hoher Stirn und Schnauzbart. Er schaut leicht nach links und trägt eine Uniform. Das Bild ist mit einem rot verzierten Oval umrandet.

Mathäus Lorenz Seitz wurde am 13. Juni 1877 in Oeschelbronn bei Pforzheim als uneheliches Kind von Christine Reich, Magd bei seinem Vater, und Christian Lang geboren. Nach dem Tod der Eltern wuchs er zuerst bei seinen Großeltern, später bei seiner Halbschwester Katharina Seitz und deren Mann auf. Zwischen 1887 und 1893 besuchte er die Schule in Pforzheim und Brötzingen. 1893/94 wurde er wegen Diebstahls zu verschiedenen Gefängnisstrafen verurteilt. Seine Lehre zum Goldschmied brach er nach zwei Jahren ab.

Es folgte eine fünfjährige Zeit bei der Fremdenlegion in Frankreich und Nordafrika. Wieder zurück in Deutschland trat er in die Armee ein, wurde aber nach sechsmonatiger Dienstzeit wieder entlassen. Zu Fuß durchquerte Seitz nun die Schweiz, Oberitalien und Südfrankreich. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich hierbei als Blechschmied. Wieder in Nordafrika/Algerien erlernte Seitz Arabisch und trat zum mohammedanischen Glauben über. In dieser Zeit kam er erneut in Konflikt mit dem Gesetz. Ein französisches Kriegsgericht verurteile ihn 1903 in Oran wegen Sachbeschädigung und Diebstahl zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe. 1908 wurde er aus Algerien ausgewiesen. Es folgen Jahre einer abenteuerlichen Wanderschaft die Seitz über Tunis, Tripolis und Alexandria schließlich bis nach Indien, Bombay und Hyderabad, bringen, wo er bei einem indischen Pascha Aufnahme findet. Während des Ersten Weltkrieges wird er von den Engländern interniert und verbringt die meiste Zeit in einem Hospital.

Nach seiner Entlassung kehrte Seitz 1920 nach Europa und zuletzt wieder nach Pforzheim zurück. Ohne Papiere schlug er sich in dieser schweren Zeit als Gelegenheitsarbeiter durch. Das Armenamt der Stadt Pforzheim ließ ihn im Juli 1921 in die Psychiatrische Klinik der Universität Heidelberg einweisen. Trotz seines Kommentars „Er sei nicht verrückt und habe auch sonst nichts auf dem Gewissen“, wurden bei Seitz „Wahnvorstellungen“ und „Wahnideen“ religiösen und erotischen Inhalts diagnostiziert. Die Heidelberger Ärzte kommen zu dem Ergebnis, „er sei in seinen Größen- und Beeinträchtigungsideen unkorrigierbar“ und veranlassen im Juli 1921 seine Verlegung in die badische Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. Eine Krankengeschichte über seinen Aufenthalt in Wiesloch ist nicht erhalten geblieben. Jedoch scheint er in den ersten Jahren noch Kontakte zu seiner Familie gegeben zu haben. Ende Februar 1940 wurde Seitz „entlassen“. Er wird zusammen mit 41 weiteren Patienten aus Wiesloch nach Grafeneck verlegt und dort ermordet.

Zeichnungen von Mathäus Seitz, angefertigt hauptsächlich während seines Klinikaufenthaltes in Heidelberg 1921, befinden sich heute in der Sammlung Prinzhorn.