Für die Opfer der "Euthanasie"-Verbrechen im Nationalsozialismus Baden-Württemberg

In Grafeneck begann im Jahr 1940 die sogenannte Aktion "T4". In einem Jahr wurden hier unter nationalsozialistischer Herrschaft 10.654 Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ermordet. Heute existiert in Grafeneck eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum zur Erinnerung an die Opfer und gegen das Vergessen in den Diskussionen der Gegenwart.

Panoramabild des Schlosses Grafeneck im Jahr 1930. Zu sehen ist das drei-flügelige Schloss auf einer Anhöhe, umgeben von Wald.
Das Foto zeigt einen von der Reichspost der T4-Organisation überlassenen roten Bus. Die Aufnahme entstand bei einer der Deportationen von Heimbewohnern aus der Stiftung Liebenau nach Grafeneck im Herbst 1940. Im Vordergrund zu sehen sind mehrere Personen, darunter zwei Männer in weißen Mänteln, die Formulare auszufüllen scheinen. Am rechten Bildrand steht ein Mann mit einer weißen Schürze. Im Hintergrund steht ein roter Bus.
Zur Landwirtschaft gehörendes Gebäude ("Remise"), in das zur Jahreswende 1939/40 eine Gaskammer eingebaut wurde. Das Bild zeigt ein längliches, weißes Gebäude. Links am Gebäude befindet sich eine Tür, rechts daneben drei Tore aus Holz. Die beiden mittleren Tore sind geöffnet.

Heinrich Hermann (1879-1961)

Leiter der evangelischen Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf – Kreis Ravensburg (Württemberg)

Heinrich Hermann auf einer Bank im Freien. Das Bild zeigt einen älteren Mann mit schwarzer Brille und weißem Vollbart. Er trägt einen Anzug und sitzt auf einer Bank. Die Beine hat er übereinander geschlagen. In den Händen hält er mehrere Blätter Papier. Er blickt ernst in die Kamera. Im Hintergrund sind eine Hauswand und unterschiedliche Pflanzen zu sehen.

Ab Oktober 1939 wurden die Heil- und Pflegeanstalten in Württemberg aufgefordert, Meldebogen für ganz bestimmte Patienten auszufüllen. Dieser Aufforderung kamen manche Einrichtungen nicht oder nur verspätet und widerwillig nach. Hierzu zählte auch die oberschwäbische Taubstummenanstalt Wilhelmsdorf.

Fundamental war der Protest des dortigen Heimleiters Heinrich Hermann (1879-1961). Er leistete echten Widerstand. Hermann hatte die Abgabefrist für die Ausfüllung der Meldebogen verstreichen lassen. Er wurde ermahnt, dies im ”Hinblick auf eine planwirtschaftliche Erfassung” nachzuholen. Hermann, der die Schweizer Staatsbürgerschaft besaß, ließ die Meldebogen zusammen mit einem von ihm verfassten Begleitschreiben unbearbeitet zurückgehen. In seinem Brief an den Reichsminister des Innern vom 6. August 1940 heißt es:

"Die Erfassung dieser Pfleglinge treibt mich zu folgender Feststellung. Ich kenne den Zweck dieser planwirtschaftlichen Erfassung. Ich weiß von den vielen Todesnachrichten, welche die Angehörigen verschiedener württembergischer und badischer Heil- und Pflegeanstalten in den letzten Monaten erhalten haben. Ich kann da gewissenshalber nicht schweigen und nicht mitmachen. Wohl weiß ich, daß es heißt: ”Seid untertan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat.” Ich habe deshalb auch den gelben Bogen ausgefüllt. Aber nun kann ich nicht weiter. Ich habe einfach die Überzeugung, daß die Obrigkeit mit der Tötung gewisser Kranker ein Unrecht begeht. [...] Gott sagt: ”Ich will des Menschen Leben rächen an einem jeglichen Menschen. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch wieder vergossen werden durch Menschen, denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.” [...] Keine Familie hat Sicherheit, daß nicht eins von ihren Kindern durch Krankheit und Unglücksfall schwachsinnig wird. Mit der Vernichtung eines solchen kranken oder einfach unnormalen Familien- oder Anstaltsgliedes handeln wir gegen Gottes Willen.- Das ist es, warum ich in dieser Sache nicht mitmachen kann. Es tut mir leid, aber man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen."

Im Endergebnis gelang es jedoch Direktor Hermann aus Wilhelmsdorf nicht, alle Bewohner vor den Verlegungen zu schützen. Der Landesverband der Inneren Mission in Württemberg wies ihn an, die Ausfüllung der Meldebogen doch vorzunehmen. Auf Grund seiner anfänglichen Verweigerungshaltung wurden die schließlich Verlegten nicht in Grafeneck 1940, sondern 1941 in der hessischen ”Euthanasie”-Anstalt Hadamar bei Limburg an der Lahn ermordet. Grafeneck war zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen. Jedoch hatte das Protest- und Widerstandsverhalten Hermanns zur Folge, dass in Wilhelmsdorf prozentual wesentlich weniger Opfer als in anderen Anstalten zu verzeichnen waren